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Grünenchefin zu Russland und Nawalny "Deutschland darf dieses korrupte Regime nicht weiter unterstützen"

Scharfe Kritik an Russland, Ruf nach echten Konsequenzen: Nach dem Giftanschlag auf Kremlkritiker Nawalny fordert Annalena Baerbock den sofortigen Baustopp der Gaspipeline Nord Stream 2 - und kritisiert SPD-Außenminister Maas' "Rumeiern".
Ein Interview von Valerie Höhne
Annalena Baerbock: "Die Rohre, die jetzt schon in der Ostsee liegen, sind derzeit unser kleinstes Problem"

Annalena Baerbock: "Die Rohre, die jetzt schon in der Ostsee liegen, sind derzeit unser kleinstes Problem"

Foto: Christoph Soeder / dpa

SPIEGEL: Die Kanzlerin hat wegen des Giftanschlags auf Alexej Nawalny deutliche Worte an Russland gerichtet. Haben Sie dem etwas hinzuzufügen? 

Baerbock: Das ist ein Mordanschlag, aus dem Kreml gesteuert, gegen den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Deshalb ist es richtig, dass Angela Merkel scharfe Worte gefunden hat. Aber Worte allein genügen nicht. Jetzt müssen Taten folgen. Es gibt eine Serie von russischen Auftragsmorden und Mordanschlägen. Da können wir Europäer nicht einfach zum Tagesgeschäft übergehen.

SPIEGEL: Was heißt das konkret?

Baerbock: Eine klare Antwort der Bundesregierung wäre, das Projekt Nord Stream 2 unverzüglich zu stoppen. Die Bauarbeiten in Mecklenburg-Vorpommern sollten dauerhaft eingestellt werden.

Zur Person

Die gebürtige Niedersächsin Annalena Baerbock, Jahrgang 1980, war von Ende Januar 2018 bis Februar 2021 zusammen mit Robert Habeck Vorsitzende der Grünen. Baerbock sitzt seit 2013 im Bundestag und war dort unter anderem klimapolitische Sprecherin der Fraktion. Bei der Bundestagswahl 2021 trat sie als Kanzlerkandidatin der Grünen an und wurde nach der Bildung der Ampelregierung Außenministerin der Bundesrepublik. Sie lebt mit ihrer Familie in Potsdam.

SPIEGEL: Aber die Pipeline ist doch bereits fast fertiggestellt.

Baerbock: Die Rohre, die jetzt schon in der Ostsee liegen, sind derzeit unser kleinstes Problem. Dieser Mordanschlag wurde verübt, um kritische Stimmen kaltzustellen, die in Russland mafiöse Strukturen aufdecken, und er war auch eine deutliche Warnung an die mutigen Menschen in Belarus. Nord Stream 2 ist auch nicht irgendeine Gasleitung. Die Pipeline spaltet Europa. Sie ist eine Wette gegen die europäischen Klimaziele und das Gegenteil von energiepolitischer Diversifizierung. Hinter Nord Stream 2 steht Gazprom; der Konzern ist direkt mit dem russischen Regime verbunden. Damit finanziert die Europäische Union indirekt ein Regime, das nicht davor zurückschreckt, verbotene Massenvernichtungsmittel einzusetzen. Im Inland und mitten in der EU, wie der Fall Skripal gezeigt hat.

SPIEGEL: Was erwarten Sie von der Bundesregierung und der Europäischen Union? 

Baerbock: Die Europäer müssen gemeinsam handeln. Aber die Schlüsselrolle hat die Bundesregierung, die ja derzeit die europäische Ratspräsidentschaft innehat. Da darf man als Außenminister nicht wie Heiko Maas rumeiern und sich noch nicht mal trauen, öffentlich zu sagen, dass man den russischen Botschafter einbestellt hat.

SPIEGEL: Wie soll es dann weitergehen? 

Baerbock: Alle mahnenden Worte und auch Sanktionen - sei es zu der Besetzung der Krim oder der Ostukraine, zum Krieg in Syrien oder jetzt zu den Massenprotesten in Belarus – werden unterlaufen, solange man sich weiter von deutscher Seite hinter das strategische Hauptprestigeprojekt des Kremls wirft. Und das gegen alle Warnungen und Ängste der eigenen europäischen Nachbarn. Solange Deutschland Russland diesen Profit ermöglicht, kann der Kreml sich ins Fäustchen lachen. Deutschland darf dieses korrupte Regime nicht weiter unterstützen. Die Bundesregierung sollte aber noch einen weiteren Hebel ziehen: Russische Oligarchen aus dem Umfeld des Kremls verdienen bei uns im Land viel Geld mit Immobilien, sie tragen und finanzieren damit auch das putinsche System mit. Es ist Zeit, die Konten solche russischer Regimeträger einzufrieren.

SPIEGEL: Halten Sie die SPD für das Problem der Regierung Merkel in dieser Frage?

Baerbock: Nicht nur, auch große Teile der Union haben Nord Stream 2 maßgeblich mit vorangetrieben. Selbst das Kanzlerinnenamt hat die Pipeline gegen besseres Wissen immer wieder als rein privatwirtschaftliches Projekt deklariert, um jede politische Verantwortung von sich zu weisen. Nord Stream 2 ist aber hochpolitisch. Und zur SPD: Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder ist Präsident des Verwaltungsrats der Nord Stream 2 AG, dessen einziger echter Anteilseigner Gazprom ist. Und nicht nur er hat sich vehement für das Projekt eingesetzt, sondern auch Sigmar Gabriel hat als damaliger Wirtschaftsminister in Geheimtreffen alles dafür getan, die Pipeline zu realisieren. Rund um die Baugenehmigungen in Mecklenburg-Vorpommern gab es scharfe Kritik, dass die SPD-geführte Staatskanzlei ihre Wirtschaftstreffen mit Zahlungen von russischen Konzernen finanziert. Die SPD muss sich endlich freimachen von den Aktivitäten ihrer früheren Vorsitzenden.

SPIEGEL: Gerade hat SPD-Chef Norbert Walter-Borjans vor einem "Wettbewerb der Sanktions-Ideen" gewarnt.

Baerbock: Natürlich muss man sich europäisch abstimmen, aber man darf nicht vergessen: Die Große Koalition mit SPD und Union hat sich in den letzten Jahren geweigert, bei Nord Stream 2 europäisch zu handeln. Sie hat sich einen feuchten Kehricht darum geschert, wie das deutsche Durchdrücken der Pipeline auf andere Europäer, insbesondere unsere osteuropäischen Nachbarn wirkt. Damit hat die GroKo Nord Stream zu einer deutschen Angelegenheit gemacht. Deshalb kann es auch nur Deutschland sein, das Nord Stream 2 jetzt stoppt. Wer so auf die EU zeigt, duckt sich weg.

SPIEGEL: Bislang hat sich die Bundesregierung bei Sanktionen zu Russland zurückgehalten. War das ein Fehler? 

Baerbock: Es gibt ja Sanktionen, aber wenn man kurz danach immer wieder zur Tagesordnung übergeht und weiter an einer gemeinsamen Pipeline baut, bringt das nicht viel. Mich besorgt das derzeit auch sehr mit Blick auf Belarus. Studierende, Eltern, Rentner – sie alle gehen für freie Wahlen auf die Straße. Die EU hat sich auf Sanktionen geeinigt, aber jetzt, wo Berichte von Folter und systematischen Vergewaltigungen zunehmen, ist politisch auf einmal wenig davon zu hören. Das ist doch keine klare außenpolitische Linie. Die EU muss das deutliche Signal senden, dass wir bei einem solchen Vorgehen nicht wegschauen.

Proteste in Belarus

Proteste in Belarus

Foto: Sergei Bobylev / imago images/ITAR-TASS

SPIEGEL: Kanzlerin Merkel hat sich stets um ein gutes Verhältnis zum russischen Präsidenten Putin bemüht. War das eine Illusion? 

Baerbock: Es wird zu einer Illusion, wenn man nicht bereit ist, neben dem nötigen Gespräch auch konsequent zu handeln. Natürlich leben wir in einer komplexen Welt. Auch die Kanzlerin hat immer deutlich gemacht, dass Putin nicht ihr bester Freund ist. Wir sind nicht nur von Freunden umgeben. Menschenrechte werden in vielen Ländern mit den Füßen getreten, nicht nur in Russland. Diese Realität kann man nicht leugnen. Wir können da aber nicht einfach sagen, dass wir mit den Regierungen dieser Länder gar nichts mehr zu tun haben wollen, im Zweifel ändert man sonst gar nichts. Man muss irgendwie im Dialog bleiben.

SPIEGEL: Klingt wie eine Floskel.

Baerbock: Nein, Dialog und Härte schließen sich ja nicht aus. Deutschland braucht im Umgang mit Russland eine doppelte Strategie: Hart gegen die Führung und so offen und freundschaftlich wie möglich gegenüber der Breite der Bevölkerung.

SPIEGEL: Von russischer Seite wird behauptet, Nawalny sei in Berlin vergiftet worden. Wie umgehen mit solchen Propagandalügen Moskaus? 

Baerbock: Informationen müssen immer geprüft werden, aber in diesem Fall ist offensichtlich, dass das russische Regime versucht, zu vertuschen. Die Wahrheit liegt ja auf dem Tisch: Nawalny wurde vergiftet. Von der Propaganda darf man sich nicht kirre machen lassen. Die EU sollte sich nicht wieder darauf einlassen, wochenlang die Lügen aus dem Kreml von oben und unten zu beleuchten, wie das nach dem Fall Skripal und dem Mord im Kleinen Tiergarten in Berlin passiert ist. Dann spielt die russische Regierung ihr perfides Spiel immer weiter. 

SPIEGEL: Spielt es eine Rolle, dass der Giftanschlag auf russischem Boden passiert ist? 

Baerbock: Ein versuchter Mord wird nicht dadurch besser, dass er von den eigenen Landsleuten im Heimatland verübt wird. Zudem ist der Anschlag eine Drohung, nicht nur gegen die russische Opposition, sondern auch an die Proteste in Belarus. Dazu darf die EU nicht schweigen. 

SPIEGEL: Russland hat implizit gedroht, in Belarus zu intervenieren. Wie kann das verhindert werden? 

Baerbock: Eine militärische Zuspitzung muss mit allen Mitteln verhindert werden. Man sollte das Angebot an die Oppositionsbewegung und das Regime in Belarus erneuern, dass die OSZE bei der Vermittlung im Konflikt und bei der Vorbereitung von Neuwahlen behilflich sein könnte. Dann wird man sehen, ob das russische Regime dabei wirklich mitmachen würde, denn Russland ist ja Mitglied der OSZE.

SPIEGEL: Warum wurde aus Ihrer Sicht bei dem Anschlag Gift benutzt? 

Baerbock: Ich sehe drei Gründe. Es ist nicht irgendein Gift, sondern ein verbotenes Massenvernichtungsmittel. Die Botschaft ist: Wir kriegen euch alle, wir können agieren, egal, wie reich oder gut vernetzt unsere Gegner sind. Die zweite Botschaft ist, dass Gegner des Regimes nirgendwo sicher sind. Nicht im Flugzeug, nicht in England, nicht in Berlin. Die dritte Botschaft ist die Warnung an die Protestierenden in Belarus. Man will die Opposition dort in Angst und Schrecken versetzen. Das dürfen wir nicht zulassen.